RODRIGO HERNÁNDEZ: I AM NOTHING
Heidelberger Kunstverein
17. September 2016 – 20. November 2016
Der Protagonist in Patrick Modianos ›Die Gasse der dunklen Läden‹ ( Rue des Boutiques Obscures, 1978) befürchtet, ein Strandmensch zu sein: ein Mensch, dessen Spur sich verliert wie ›der Sand die Spuren unserer Füße nur wenige Sekunden bewahrt‹. Der Roman erzählt die Geschichte des Detektivs Guy Roland, der sich seiner abhanden gekommenen Vergangenheit wieder zu vergewissern versucht. Reale und imaginierte Erinnerungen vermengen sich zusehends, während der Suchende in die eigene Geschichte eintaucht. Doch eine befriedigende Aufklärung der Identitätssuche bleibt sowohl Roland als auch dem Leser letztendlich versagt.
Modiano zeichnet das Bild eines Menschen ohne Eigenschaften, eine weiße Leinwand, die der Protagonist selbst zu füllen versucht. ›Ich bin nichts‹ sind die ersten Worte, mit denen er seine Aufzeichnungen beginnen lässt. Der mexikanische Künstler Rodrigo Hernández spürt diesem Motiv in seiner Einzelausstellung ›I Am Nothing‹ im Studio des Heidelberger Kunstvereins nach. Die aus Papiermaché gefertigte Skulptur ›Figure 1‹ (2013) nimmt dabei die Hauptrolle ein: Eine Person ohne Füße hat ihre leeren Hände nach vorne geöffnet. Ihr unsicherer Stand deutet die Schwierigkeiten von Verortung an, die Geste der Hände verstärkt den fragilen Eindruck. Angelehnt an Modianos Detektiv und die Sprache von Giorgio de Chiricos Metaphysischer Malerei stellt die Figur einen ›unbeschriebenen‹ Körper dar, dessen Aussehen keinen Aufschluss über Alter oder Herkunft zulässt. Erscheint uns diese Gestalt einerseits stumm, spricht sie doch eine universelle Sprache. Woher kommt ›Figure 1‹? Was verrät uns ihre Körpersprache ? Welche Identität besitzt sie ? Rodrigo Hernández sucht nach Spuren, die diese Figur beschreiben und entwickelt eine Erzählung um sie herum: Ein Mann zieht in eine neue Stadt. Sein Besitz jedoch trudelt nur Stück für Stück ein. Als schließlich alles angekommen ist, scheint es ihm unmöglich, sein Hab und Gut noch wieder zu erkennen.
Die Erzählung öffnet sich zu einem Dialog mit Bildern und Objekten, die sich ebenfalls einer zeitlosen Formensprache bedienen und sich teilweise an Dokumente und Artefakte aus der ersten sowjetischen Weltraummission anlehnen. So schafft Rodrigo Hernández einen Raum, der sich zu einem poetischen Narrativ verdichtet. Für den Heidelberger Kunstverein entwickelt er ein komplexes Szenario, das unsere Suche nach Beziehung, nach Identität und Verortung widerspiegelt und sich durch das Hinzukommen weiterer Arbeiten im Laufe der Ausstellungsdauer immer stärker verzweigt.
Rodrigo Hernández (*1983 in México City) studierte Bildende Kunst an der Escuela Nacional de Pintura, Escultura y Grabado ›La Esmeralda‹ in México City und an der Akademie der Bildenden Künste Karlsruhe bei Prof. Silvia Bächli (2010 – 2012). Ein Stipendium führte ihn 2013 / 2014 an die Jan Van Eyck Academie in Maastricht und jüngst an das New York Studio Grant. Weitere Auszeichnungen erfolgten durch die Laurenz-Haus-Stiftung in Basel, die Kunststiftung Baden-Württemberg und den Kulturfonds der Landeshauptstadt Salzburg. Noch bis Ende Oktober 2016 ist Hernández als Stipendiat der Akademie Schloss Solitude Stuttgart und des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst des Landes Baden-Württemberg an der Cité Internationale des Arts in Paris. Mit diesem Auslandsstipendium ist auch die Einzelausstellung ›I Am Nothing‹ im Heidelberger Kunstverein verbunden.