TRACES OF INTEREST
ifa-Galerie Stuttgart
01.03. – 19. 06. 2024
mit Heinrich Apel, Joseph Beuys & Nicolás García Uriburu, Erich Bödeker, Isaac Chong Wai, Carlfriedrich Claus, Lizza May David, Dick Higgins, Hannah Höch, Käthe Kollwitz, Wilhelm Klotzek, Joseph Kosuth, Ofri Lapid, Adrien Missika, Takako Saito, Eran Schaerf, Elisa Tan, Endre Tót, Rosemarie Trockel, Günther Uecker, Gitte Villesen, Ruth Wolf-Rehfeldt
Kuratiert in Zusammenarbeit mit Inka Gressel und Wilhelm Klotzek
Traces of Interest ist der dritte Teil der künstlerisch-kuratorischen Auseinandersetzung mit den Schichten und Geschichten der umfangreichen ifa-Kunstsammlung. Die Ausstellung verknüpft Ideen und Werke aus einem Arbeitsprozess, der im Herbst 2021 mit den Künstler:innen Isaac Chong Wai, Lizza May David, Wilhelm Klotzek, Ofri Lapid, Adrien Missika und Gitte Villesen begann. In dem vorausgehenden zweiteiligen Ausstellungsprojekt „Spheres und Chains of Interest reflektieren die Künstler:innen die Sammlungspraxis des ifa und ermöglichen so neue Auseinandersetzungen mit dem deutsch-deutschen Kunstbestand.
1992 erarbeite Günther Uecker unter dem Einfluss der rechtsradikalen Angriffe in Rostock-Lichtenhagen den Werkkomplex „Verletzung des Menschen durch den Menschen“ für seine Tourneeausstellung. Wörter wie würgen, schreien, weinen, nageln, klatschen, spotten entnahm er dem Alten Testament und lässt jedes für sich zum Bild werden. Ueckers Stellungnahme hat nie an Aktualität verloren und eröffnet jetzt die Stuttgarter Ausstellung.
Die Figur der Liegenden ist ein klassisches bildhauerisches Motiv. In der Ausstellung treffen drei „Liegende“ aufeinander: eine Plastik von Heinrich Apel aus dem Bestand des ZfK (Zentrum für Kunstausstellungen der DDR), die nach über dreißig Jahren zum ersten Mal wieder ausgestellt wird, eine Holzfigur des Autodidakten Erich Bödecker aus der Ausstellung „Naive Kunst“ sowie eine Liegende, die genüsslich eine Zigarette raucht von Wilhelm Klotzek. Gemeinsam sprechen sie die Einladung aus, das Video von Lizza May David anzusehen, das von indigenen Gesängen und Mythen beiderseits des Pazifiks in Mexiko und den Philippinen inspiriert ist. Ihre klangvollen mmmms weiten sich aus und überziehen ihre Malerei, die wiederum in Verbindung mit den Text-Bildarbeiten der chinesisch-philippinischen Künstlerin Elisa Tan treten. Ausgehend von der unbefüllten „Asien“-Grafikschublade im ifa-Depot in Stuttgart entschied sich David, diese zu präsentieren, um diese Leerstelle symbolisch zu überbrücken.
Ofri Lapid initiierte eine komplexe Übersetzungskette, die auf Joseph Kosuths lexikalischer Arbeit Titled (Kunst als Idee als Idee) basiert und den Tourneestationen der Ausstellung Kunstraum Deutschland seit 2000 folgt. Daraus entwickelte sie die gleichnamige polyphone Performance mit über 30 Sprecher:innen. Lapids Verfahren der „stillen Post“, Kosuths Begriffe von einer Sprache in die nächste zu übersetzen – in Analogie zur Tourneeroute – führt zur Dekonstruktion der eigentlichen Definition der Begriffe „meaningless“, „purple“ und „volume“. Die entstehenden Verfremdungseffekte schaffen eine kritische Distanz zu Kosuths schwarz/weißen Sprachbildern, während sich zugleich die Sprachräume der über 30 Ausstellungsstationen akustisch nachempfinden lassen.
Gitte Villesens Film Strings and Berries ist eine Hommage an Hannah Höch. Ausgehend von ihrer Collage Seidenschwanz folgt Villesen dem Vogel in verschiedene Gärten und Zeiten. Gleichzeitig verbindet sie Rollenverständnisse und Bezüge der beiden feministischen afro-amerikanischen Autorinnen Octavia Butler und bell hooks. Dabei spielt auch das Gartenhaus von Hannah Höch in Berlin-Heiligensee, in das sie zwei Wochen nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges gezogen war, eine wichtige Rolle. Höch nutzte den abgeschiedenen Ort, um Dokumente und Kunstwerke ihrer Freund:innen vor den Nationalsozialisten zu verstecken.
Wilhelm Klotzeks „ZfK-Blende“, ursprünglich für die Außenfassade der ifa-Galerie in Berlin entstanden, bringt Kleinplastiken aus dem Bestand des ZfK ans Licht der Öffentlichkeit. Künstlerisch verbindet ihn eine Nähe zu Carlfriedrich Claus, der in der DDR Teil der kritischen Avantgarde war. Anfang der 1990er Jahre stellte das ifa die Tourneeausstellung Denklandschaften zusammen, die sein Werk international bekannt machte.
Ausgehend von dem Konzept der Tourneeausstellung gründete Adrien Missika mit MOTUS einen mobilen zweirädrigen Kunstraum, der CO2-neutral im öffentlichen Raum agiert. Für das Projekt hat er Werke aus der Fluxus Ausstellung aktiviert. Die Schachspiele von Takao Saito gehen eine Liaison mit Endre Tóts Fotografien ein, der, als er von Budapest nach Köln übersiedelt, die erste Zeit nur Schach spielte. Dick Higgins Komposition ließ Missika in Berlin interpretieren und das verschmutzte Rheinwasser von Joseph Beuys und Nicolas Garcia Uribuo führte ihn zu einem Reenactment.
Isaac Chong Wais Nähe zu der Arbeit von Käthe Kollwitz führte ihn zu ihrem Werk „Die Mütter“ (1922/23), einem von Kriegserfahrungen gezeichneten kollektiven Körper. Ihr plastisch wirkender Holzschnitt ließ ihn 2022 die gleichnamige Performance entwickeln. In Trauergesängen öffnen die Performer:innen Kollwitz Bild des Widerstands und Schutzes und führen in der Berliner Klosterruine zu einem Raum der Heilung. Für die Ausstellung in der ifa-Galerie Stuttgart hat der Künstler seine Videoinstallation durch eine Auswahl an Porträts und Selbstporträts erweitert.
Das prozessuale Ausstellungsprojekt begann mit der Ausstellung Spheres of Interest, in der die sechs Künstler:innen die von ihnen ausgewählten Werke performativ und narrativ aktivierten und kontextualisierten. Ihre Auswahl ermöglichte kritische und humorvolle Perspektiven auf die besondere Geschichte der Sammlung. Die Künstler:innen entdeckten und beschrieben Leerstellen, politische Verstrickungen und schufen zahlreiche neue Verbindungen zwischen den ausgewählten Kunstwerken. Chains of Interest vertiefte die Untersuchungen und die Künstler:innen traten mit eigenen, neu entwickelten Arbeiten in den Vordergrund. Dabei kamen verschiedene künstlerische Sprachen, Haltungen und Nachbarschaften zum Vorschein, die sich filmisch, akustisch, linguistisch und spielerisch äußern. In der Ausstellung verband sich ein Satz, ein Bild, ein Gedanke oder eine Handlung mit einer anderen und erzeugt eine mehrstimmige Partitur.
Fotos: bildhübsche Fotografie
Link: "Out of the Box. Traces of Interest", Kultur aktuell, Beitrag vom 02.04.2024, SWR Kultur