LAND OHNE LAND
Heidelberger Kunstverein
27. Februar 2016 – 10. April 2016
›Land ohne Land” ist der zweite Teil der Gruppenausstellung ›Es war einmal ein Land‹, die vom 28. November 2015 bis zum 14. Februar 2016 im Heidelberger Kunstverein sowie an fünf Satelliten-Stationen im öffentlichen Raum der Stadt zu sehen war.
Mit den historischen Entwicklungen nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches und den Auswirkungen bis in die Gegenwart, auch außerhalb dieser Region setzte sich die Ausstellung ›Es war einmal ein Land‹ auseinander.›Land ohne Land” versammelt hingegen elf künstlerische Positionen und Herangehensweisen, die Land nicht nur als physischen Ort, sondern vielmehr als Möglichkeitsraum der Auseinandersetzung mit traumatischen Erfahrungen in einer instabilen Welt verstehen. Überlebensstrategien, die Prozesse der Heilung, des Widerstands und der Solidarität austasten, stehen dabei im Vordergrund.
Die Ausstellung zeigt künstlerische Arbeiten, die diejenigen Narrative und Perspektiven unserer geschichteten Gegenwart in den Mittelpunkt stellen, die einer gängigen Aufmerksamkeit und Geschichtsschreibung oftmals entzogen sind. Geschichte setzt sich aus Erzählungen zusammen, die von einer Generation zur nächsten getragen werden, von Stadt zu Stadt und Land zu Land, von Kontinent zu Kontinent und die im Verlauf der Zeit ihre Gestalt verändern. Jeder von uns besteht aus zahlreichen Erzählungen, die Teil eines größeren Narrativs werden.
Die Installation ›Heimweh‹ der deutschen Künstlerin und Musikerin Michaela Melián versammelt eine Vielzahl von Glasobjekten wie Schüsseln, Vasen oder Glühbirnen auf einem Tisch, der von einem Diaprojektor so in Licht getaucht wird, dass an der Wand eine abstrakte Stadtlandschaft erscheint. Eine Audio-Aufnahme des Gedichtes ›Heimweh‹ (1909) von Else Lasker-Schüler auf Deutsch, Hebräisch und Arabisch ist in eine Komposition für Glasharmonika eingebettet. Mit ihrer Installation fokussiert Melián jahrhundertelange Zusammenleben unterschiedlichster Kulturen im Nahen Osten und die politisch erzeugten Migrationsbewegungen. Körper und Geist sind im Exil auseinander gerissen, nur das Heimweh bleibt beständig.
Die neue Arbeit von İz Öztat und ihrem Alter Ego Zişan fragt danach, ob geometrische Abstraktion die Möglichkeit einer Darstellung bietet, wenn sich die Realität der Repräsentation verweigert. Kann sie eine Form sein, politische Gewalt und Trauma zu reflektieren und zu verarbeiten?
Bassam Ramlawi, im ›Basta‹-Viertel von Beirut wohnend, studierte Kunst in den Niederlanden und hat sich der Auseinandersetzung mit Protagonisten der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts (vor allem René Daniëls, Otto Dix und Cindy Sherman) ebenso wie seiner direkten Nachbarschaft (Frisör, Metzger und andere) verschrieben. Seine Zeichnungen treffen in der Ausstellung auf eine Video-Arbeit der libanesischen Künstlerin Mounira Al Solh, die wiederum Ramlawi porträtiert. Beide Werke handeln von den inneren Konflikten der Künstler mit einer Gesellschaft, die durch nationale, religiöse und kulturelle Subjektivierungsweisen Identitäten erstellt.
Mit seiner umfassenden Graphik Novel ›An Oral History of Picasso in Palestine‹ erzählt Michael Baers von einem Projekt des palästinensischen Künstlers Khaled Hourani. Pablo Picassos Gemälde ›Buste de femme‹ reiste 2011 für eine Ausstellung vom Van Abbemuseum in Eindhoven nach Ramallah. Versicherung, Transport, Bürokratie und die politische Situation vor Ort erforderten aufwendige Verhandlungen, die sich über zwei Jahre erstreckten. Hourani und die unterschiedlichen am Projekt beteiligten Personen werden zu Protagonisten in Baers detailreicher Erzählung, die zeigt, dass eine Narrativierung keine Reduktion von Komplexität bedeuten muss.
Hera Büyüktasşçıyan für die Ausstellung entwickelte Installation ›The book of all songs, the song of all books‹ befasst sich mit dem Codex Manesse, der reich bebilderten Großen Heidelberger Liederhandschrift. Büyüktasşçıyan eignet sich die mittelalterlichen Zeichnungen an und erweitert sie mit grafischen Details, die Sequenzen der Gegenwart festhalten.
Akkumulierte Zeit und Erinnerung materialisieren sich in den Zeichnungen der Künstlerin, die Vergangenheit, Gegenwart und eine mögliche Zukunft ineinanderfließen lassen. ›Rulers and Rhythm Studies‹ von Cevdet Erek ist die einzige Arbeit, die sowohl in ›Es war einmal ein Land‹ als auch in ›Land ohne Land‹ zu sehen ist. Erek hat eine Serie verschiedenartiger Lineale so modifiziert, dass sie statt Längeneinheiten das Verstreichen der Zeit sowie besondere historische und persönliche Momente abmessen.
Kuratorinnen: Öykü Öszoy und Susanne Weiß
Öykü Özsoy arbeitet als freie Kuratorin. Von Juni 2013 bis September 2015 war sie International Fellow am Wilhelm-Hack-Museum im Rahmen des von der Kulturstiftung des Bundes initiierten Programms ›Fellowship Internationales Museum‹. Zuvor war sie Direktorin des ›Full Art Prize‹ (2011 – 2012) und koordinierte u.a. das Programm des ›Garanti Contemporary Art Centers‹ (2002 – 2010). Ihr kuratorisches Interesse liegt auf forschungsbasierten künstlerischen Praktiken, insbesondere Strategien der Partizipation, Zusammenarbeit und Wissensproduktion.