ES WAR EINMAL EIN LAND
Heidelberger Kunstverein
27. November 2015 – 14. Februar 2016
›Es war einmal ein Land‹ richtet seinen Blick geografisch in die Region, die sich mit dem Zusammenbruch des Osmanischen Reichs neuordnete. Die Auswirkungen der historischen Entwicklungen sind nicht auf diese Region begrenzt und zeigen sich in der aktuellen Flüchtlingssituation auch in Europa. Neben der Ausstellung im Kunstverein werden fünf Satelliten-Stationen bespielt, die eine thematische und räumliche Verknüpfung in den öffentlichen Raum vornehmen.
Vor etwa hundert Jahren zerfällt mit dem Ersten Weltkrieg das Osmanische Reich in seine Einzelteile und ein Großteil der Region wird vor allem unter den Kolonialmächten Deutschland, England und Frankreich sowie Russland neu aufgeteilt. In dieser Zeit kommt es 1915 zum Genozid an den Armeniern und mit der Balfour-Deklaration wird 1917 in Palästina der Weg für einen jüdischen Staat geebnet. Als weitere Folge kolonialistischer und nationalistischer Bewegungen im 19. Jahrhundert wird der Vielvölkerstaat Osmanisches Reich 1922 aufgelöst und 1923 die Republik Türkei ausgerufen. Die fatalen Konsequenzen des Ersten Weltkriegs und die Auswirkungen bis in den Mittleren und Nahen Osten sind bis zum heutigen Tag spürbar und lassen die Region nicht zur Ruhe kommen.
Dieser historische Ausgangspunkt ist zur Betrachtung der Gegenwart unabdingbar. Die derzeitigen Migrationsbewegungen aus dem Nahen Osten stehen im direkten Zusammenhang mit der Neuordnung der Region zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Europa erlebt zum ersten Mal in dieser Weise die Konsequenzen des labilen Zustands im Nahen Osten, wo Menschen in großer Zahl schon seit den 1940er Jahren in Flüchtlingslagern leben oder ihre Heimatländer verlassen haben.
In ›Es war einmal ein Land‹ erzählen acht künstlerische Positionen eine a-chronologische, stark fragmentierte, aber wechselseitige Geschichte. Den zeitlich entferntesten Eckpunkt bildet die Rede von Papst Urban II., der 1095 zum Kreuzzug gegen die Muslime aufrief. ›Cabaret Crusades: The Horror Show Files‹ ist der erste Teil der Trilogie des ägyptischen Künstlers Wael Shawky, der filmisch mit Marionetten aus dem 18. Jahrhundert diese wichtige Epoche aus arabischer Perspektive erzählt. Ein Krieg, der zweihundert Jahre andauerte, Menschen von Europa zu Fuß nach Jerusalem gehen ließ und das Verhältnis zwischen dem Islam und dem Christentum bis zum heutigen Tag geprägt hat.
Den Bogen in die Gegenwart der Region schlägt die Arbeit ›I strongly believe in our right to be frivolous‹ der libanesischen Künstlerin Mounirah Al Solh, die ihre eigene Biografie und Position als Künstlerin und damit als privilegiert Handelnde zur Disposition stellt. Al Solh porträtiert seit Kriegsbeginn 2011 syrische Flüchtlinge, die in den Libanon kommen mit schnellen Zeichnungen, in denen Schrift und Zeichenstrich eine Liaison eingehen. Sie verweisen auf die kurzen Momente mit den Menschen, aus deren Leben vor der Flucht die Künstlerin erzählen möchte.
In scherenschnittartigen Bildern spürt Bengü Karaduman in der Videoinstallation ›In Place of Silent Words‹ der Vorgeschichte und den Nachwirkungen des türkischen Militärputsches von 1980 nach. Die Spuren des bereits seit Jahrzehnten andauernden türkisch-griechischen Konflikts auf Zypern hält Johanna Diehl in der fotografischen Serie ›Displace‹ fest, welche leerstehende sakrale Räume im Spannungsverhältnis zweier Religionen untersucht. Die Ausstellung zeichnet mit den eingeladenen Künstlern die Widersprüche und Komplexität der historischen Entwicklungen nach und versammelt unterschiedliche künstlerische Strategien im Umgang mit den offenen Fragen und Interpretationsräumen der Geschichtsschreibung. Die Narrative von ›Es war einmal ein Land‹ werden mit einer weiteren Ausstellung am 26.2.2016 fortgeführt.
Mit den Satelliten-Stationen erweiterte sich die Ausstellung ›Es war einmal ein Land‹ in den öffentlichen Raum:
In der Stadtbücherei Heidelberg teilt José F. A. Oliver seine Beobachtungen aus der Metropole Istanbul auf Wandbannern und in einer Lesung mit dem Publikum. Zwei Fenster des Instituts für Klassische Archäologie dienen als Rahmen für eine Installation Elisabeth Zwimpfers mit Motiven aus ihrem Animationsfilm ›Ships Passing in the Night‹. Hera Büyüktaşçıyan präsentiert in zwei Vitrinen im Foyer der Universitätsbibliothek Heidelberg Arbeiten aus ihrem zeichnerischen Werk. Sowohl im Schaufenster der Edition Staeck als auch im Pannonica zeigt Bengü Karaduman Ausschnitte aus ihrer Video-Installation ›In Place of Silent Words‹.
Partner: Stadtbücherei Heidelberg, Institut für klassische Archäologie, Universitätsbibliothek Heidelberg, Schaufenster Edition Staeck, Pannonica
Kuratorinnen: Öykü Öszoy und Susanne Weiß
Öykü Özsoy arbeitet als freie Kuratorin. Von Juni 2013 bis September 2015 war sie International Fellow am Wilhelm-Hack-Museum im Rahmen des von der Kulturstiftung des Bundes initiierten Programms ›Fellowship Internationales Museum‹. Zuvor war sie Direktorin des ›Full Art Prize‹ (2011 – 2012) und koordinierte u.a. das Programm des ›Garanti Contemporary Art Centers‹ (2002 – 2010). Ihr kuratorisches Interesse liegt auf forschungsbasierten künstlerischen Praktiken, insbesondere Strategien der Partizipation, Zusammenarbeit und Wissensproduktion.